Titelbild des Hefts Nummer 61
Deutschland 21: Oben bleiben
Heft 61 / Vorfrühling 2011
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Gemeinschaftsneid und Strafbedürfnis

Die zwei Formen des postnazistischen Bewusstseins

Zu den Hunderten Szenen der Letzten Tage der Menschheit gehört auch die des herumtorkelnden „Schwerbetrunkenen“ in der „Elektrischen Bahn“ von Baden nach Wien, der „im zivilen Leben ein Möbelpacker sein dürfte, Riesenfigur, buschiger Schnurrbart, Pepitahosen, welche die Spuren von übermäßigem Weingenuß und einer eben überstandenen gewaltsamen Entfernung vom Tatort zeigen. Er hat einen Sack neben sich, aus dem er hin und wieder eine Flasche hervorzieht. Er gerät mit einem Paar in Streit, weil er an das Mädchen angestoßen ist, bedroht den Begleiter, und brüllt die ganze Fahrt hindurch: A so a Binkel! – wüll sich da aufbrausnen – wos hom denn Sö fürs Votterland geleisteet? Legimitiern S’ Ihna! Vur mir! – Schaun S’mi an – solchene Söhne wia Sö hob i im Föld – die wos mehr Boart ham als wia Sö – die leisten wos – fürs Votterland – Wissen S’ von wo i kumm – von Boden kumm i – Sö Binkel – legimitiern soll’n S’ Ihna – Was glauben denn Sö – so aner – wüll sich da aufbrausnen – ’leicht weil S’ Ihner Muckerl bei Ihna ham – was ham denn Sö fürs Votterland geleisteet? – schaun S’ mi an – i leist was – fürs Votterland – A jeder soll aufbrausnen als wia der – Wos wolln denn Sö? Hab i Ihna vielleicht beleidigt? – Sö Binkel – i leist wos – legimitiern S’ Ihna – do schaun S’ her – wissen S’ wos dös is – a Földpostkarten von mein Neffen – fürs Votterland – Sö Binkel – legimitiern soll er sich – der Binkel – vur mir soll er sich legimitiern – hot nix geleisteet – für’s Votterland – (Nachdem er sich über Zureden des schwächlich aussehenden Kondukteurs ein wenig beruhigt hat, bietet er den Umsitzenden, auf die er abwechselnd fällt, die Flasche.) G’fällig Herr Nachbar – weil mr Österreicher san! … (nur noch lallend) Der Binkel! – fürs Votterland – legimitiern – …“ (1)

War es möglich, dass die deutsch-österreichische Katastrophenpolitik noch in diesem Lallenden und Torkelnden verkörpert werden konnte, weil sie im Ersten Weltkrieg selbst erst anlief, nimmt der Schwerbetrunkene zugleich etwas von den politischen Nachlaßverwaltern jener Politik vorweg. Er könnte geradezu als Personifikation der Vaterlandstreuen von heute gesehen werden, die Feldpostkarten der Wehrmachts-Großväter weiterhin mit Stolz herzeigen – wobei ihr Gesichtskreis sich wieder auf Wahlkreise beschränkt, die von Regionalbahnen leicht zu durchmessen sind. Gäbe es nur noch diese Gestalt des postnazistischen Bewusstseins, die Katastrophenpolitik wäre weniger zu fürchten als jemals.

weil mr Österreicher san!

Die Bezeichnung der Neonazis als Populisten, welche doch vornehmlich dazu dient, sie zu verharmlosen, enthält ein Wahrheitsmoment: Allem Anschein nach sucht sich etwa die FPÖ seit einiger Zeit wirklich zur rechtspopulistischen Partei zu mausern, soweit sie, nur um Stimmen zu gewinnen, bereit ist, den Kernbestand ihrer Politik der Taktik zu opfern. Neuerdings tritt sie nicht nur als Interessensvertretung bestimmter, lange Zeit von ihr geächteter „Minderheiten“ auf und rühmt sich etwa, die einzige Partei Österreichs zu sein, „die von einem Schwulen geleitet wurde“, gemeint ist Haider. (2) In Inseraten für die Wiener Wahlen vom Oktober 2010 beruft man sich auf jene, die einmal das schlimmste Feindbild abgaben, auf die „angesehenen Persönlichkeiten“ Henryk Broder („Der Islam ist mit den Werten einer modernen Welt nicht kompatibel …“) und Alice Schwarzer (… die Islamisten, die müssen wir als das begreifen, was sie sind – als unsere Feinde“). Selbst der Hass auf Israel wird zurückgestaut, um die SPÖ in die Bredouille zu bringen, deren Unterstützung der Feinde Israels mit der Verurteilung der israelischen Militäraktion gegen die sogenannte Gaza-Hilfsflotte nie gesehene Ausmaße angenommen hat, und die Grünen bloßzustellen, die auf einer Website für türkische Immigranten Werbung machen, wo sonst Botschaften zu finden sind wie: „Wir Türken sind keine Juden, vor uns braucht ihr keine Angst zu haben“. (3) Plötzlich gerieren sich die Vertreter einer Partei, die Haider stolz und mit einem gewissen Recht als PLO von Österreich präsentiert hat, als die eigentlichen Freunde Israels. (4) Aber inwieweit kann eine solche Wende in der Propaganda verfangen, da doch die Mehrheit des Wählerpotentials, insbesondere das der FPÖ, davon überzeugt ist, dass Israel Schuld trägt an Krieg und Terrorismus im Nahen Osten und weltweit?

Wenn jene, die ihrem Hass weiterhin freien Lauf lassen, sobald es gegen die Immigranten geht, nun aber Verrat an ihren ältesten antisemitischen Idealen üben und die Verbindungen zur israelfeindlichen islamischen Welt, die Haider noch kontinuierlich pflegte, so sehr vernachlässigen, dann zeigt sich wohl nicht zuletzt, wie schwach sie trotz aller jüngsten Wahlerfolge geworden sind, wie sehr sie sich auf lokale Themen zurückziehen müssen bzw. gezwungen sind, die Themen unter dem Gesichtspunkt rein regionaler Bedeutung zu behandeln, um wieder erfolgreich zu werden. Auf dem Ticket, das hier angeboten wird, ändern sich mehr denn je die Prioritäten: Israel, die USA und selbst die EU verlieren als Projektionsfläche unmittelbar an Bedeutung, dafür tritt die „Ausländerfrage“ umso mehr hervor, sie aber findet sich selbst nicht mehr wie einst, ausschließlich unter dem Gesichtspunkt „Überfremdung“ und „Umvolkung“ abgehandelt, vielmehr hat sie jetzt einen scheinbar konkreteren Namen und eine eigene „Kultur“: „Daham statt Islam“ lallen die knapp 30 Prozent Schwerbetrunkene auf dem Weg ins Wahllokal.

die Spuren von übermäßigem Weingenuß

Da hatte Jörg Haider noch andere Ziele, selbst als er sich auf Kärnten einschränken musste. Die enormen Schulden, die er bei der von seinem Racket in Beschlag genommenen Bank machte, um die soziale Wärme in seinem Bundesland anzudrehen, konnten allerdings beim besten Willen nicht gedeckt werden dadurch, dass nun die Kärntner etwa in Slowenien einmarschierten. Also hatte sich der Führer als Landeshauptmann immer auch nach anderen Geldquellen umzusehen, insbesondere bei solchen ideologisch befreundeten Mächten, die noch imstande waren, woanders einzumarschieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er bei Saddam Hussein landete, der ihn vermutlich dauerhaft unterstützen wollte, freilich viel zu wenig zahlte und dann auch bald im Erdloch verschwand.

Nicht viel später suchte Haider selber den Heldentod als alkoholisierter Lenker im rasenden Führerbunker. So musste er nicht mehr den Zusammenbruch des Kärntner Reichs erleben, aber mit dem smarten „Jörgl“ sind auch postmoderne Geschicklichkeit in Auftreten und Eloquenz dahin, der die ganze Szene beflügelte und die Medien auf Trab hielt, und der Charakter der Partei als Bewegung, die eine politische Form nach der anderen generierte und eben darin an die Nationalsozialisten erinnerte, ist wie abgestorben. Seine Nachfolger treten demgegenüber mit dem Slogan „Abendland in Christenhand“ als veritable Austrofaschisten und polternde Provinzpolitiker auf, besonders volkstümlich gerade dadurch, dass sie sich den Habitus des heimischen Halbwelt-Milieus aneignen: Strache firmiert als echter Wiener Strizzi, der einerseits für die Jungen in Ottakring den Gangsta-Rapper macht; andererseits israelische Siedler besucht, weil er das Westjordanland als analoges Gangland betrachtet – in seiner Diktion heißt das: Heimat, wobei die innere Nähe zu den Banden der Hamas und Hisbollah dann doch nicht ganz unterdrückt wird: „Palästinenser und Israelis hätten ein Menschenrecht auf Heimat. ‚Beide Seiten müssen zu einer friedlichen Koexistenz finden.’ Er sei auch nach Beirut und Damaskus eingeladen worden und wolle dort sein Engagement fortsetzen, sagte Strache. Er könne nicht ausschließen, Vertreter der Hisbollah oder Hamas zu treffen, aber er werde die ‚freiheitlichen Ideale aufrechterhalten’.“ (Der Standard, 21.12.2010) Die neue Außenpolitik der FPÖ ist nur der Widerschein der neuen Bescheidenheit im Inneren: Man ist es im Grunde zufrieden, wenn man nur im eigenen Banden-Revier, das man aggressiv verteidigt, seiner Kundschaft und seiner Schutzbefohlenen sicher sein kann und also jene 20 bis 30 Prozent Österreicher bedient, die nicht leben können, ohne täglich ein paar Phrasen gegen die Ausländer und den Islam zu hören und zu sagen. Im Übrigen aber besteht für dieses quantitativ konstante Klientel wie für die Mehrheit der Bevölkerung Politik vor allem darin, die Katastrophen, die überall außerhalb der österreichischen Grenzen warten, nicht hereinzulassen. Wenn der Wiener Gemeindrat einstimmig, das heißt: auch mit den Stimmen der FPÖ, das Eingreifen des israelischen Militärs gegen die kriegstreiberische Friedensflottille verurteilte, als handelte es sich beim Nahen Osten um einen Wiener Außenbezirk, so rangierte die Bedeutung dieser Entscheidung fürs Wahlvolk wohl noch unter der für den Kampfhunde-Führerschein in Wien. Das haben offenbar die neuen Männer der FPÖ registriert und sich demgemäß umgestellt.

Zu recht fühlen sich die wenigen Aufrechten im Stich gelassen, die noch das allein Wesentliche im Auge haben und Solidarität mit allen üben, wenn sie nur dem gemeinsamen Feind, der die Grenzen niederreißt und den freien Verkehr von Kapital und Arbeitskräften organisiert und garantiert, die Stirn bieten und die Verfolgung der Juden in Angriff nehmen. „Europas Rechtsparteien wird der Pragmatismus zum Verhängnis“, warnt die unter österreichischen Neonazis sehr geschätzte Homepage der Alpen-Donau-Info. Ihre größte Sorge im Augenblick: „Wird die FPÖ-Führung dabei sein“, wenn diese Parteien sich der „Israel-Connection“ anschließen? Dahinter können nur die Juden stecken: Wenn Samuel Laster, der die Website Die Jüdische betreibt, etwas gegen den Alpendonaudreck unternimmt, ist für dessen Urheber sofort klar, warum: „Offensichtlich stößt es den Juden besonders schwer auf, dass wir uns nicht an dem hirnlosen Religionskampf – im Interesse der Zionisten – gegen den Islam beteiligen wollen“.

Es ist ein kleiner Kreis geworden, wo man noch in Großräumen denkt und die Solidarität mit Jihadisten hoch leben lässt, weil sie Israel, „die Spinne im globalen Netz“ (Alpen-Donau-Info), zerstören und die Juden vernichten wollen. Im weiteren Kreis der Lokalpolitiker scheint diese aktive Solidarität weitgehend verkümmert. Hier muss man mit einem Wahlvolk kalkulieren, dessen Antisemitismus zwar wie überall in letzter Instanz auf Israel zentriert ist. Doch erweist sich das Interesse für Weltpolitik insgesamt als erstaunlich gering, und das zeugt realiter davon, wie wenig gravierend die so heftig beschworenen Finanzmarkt-Krisen weiterhin erlebt werden. Die kollektive „Tötungsbereitschaft“ bleibt bis auf weiteres „im Wartestand“ (5) – umso mehr bedarf sie einer Ergänzung speziell von links.

fürs Votterland

Die Rede von Islamophobie ist raffinierter als antideutsche Schulweisheit sich träumen lässt. So wie sie einerseits dazu da ist, die Juden als die Antisemiten von heute zu denunzieren, vertraut sie andererseits darauf, dass der Hass auf Muslime sich vom Hass auf sonstige Immigranten und Minderheiten wesentlich unterscheide. Nun aber einfach das Gegenteil zu behaupten und zu sagen, die Muslime würden hierzulande nicht anders betrachtet als andere Zuwanderer auch, und es sei also bloß der bekannte Rassismus oder die vielzitierte Fremdenfeindlichkeit, was ihnen entgegenschlägt, blendet zwangsläufig aus, dass die Muslime von den falschen Feinden des Islam durchaus als politische Einheit wahrgenommen werden. Die Frage müsste darum lauten: in welcher Weise, von welchen Voraussetzungen aus, sie als politische Einheit wahrgenommen werden.

Was als Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus firmiert, ist immer einem ganz bestimmten Bewusstsein geschuldet, und in einer Gesellschaft, die unmittelbar aus dem Massenmord an den Juden hervorging, konstituiert es sich nicht unabhängig davon, ist vielmehr selber ein Moment in der Bejahung der Resultate nationalsozialistischer Vernichtung. Diesen Zusammenhang, der als Postnazismus auf den Begriff zu bringen wäre, vollständig unkenntlich zu machen, werden – von Hart aber fair bis Konkret, Deutschlandradio bis Freie Radios, Club 2 bis Phase 2 – die heillosen Diskussionen darüber geführt, was denn die einzelnen Vorurteile seien, deren die demokratischen BürgerInnen oder antirassistischen Genoss_innen sich zu entledigen haben. Der Schlussstrich, wie er nun endlich doch gezogen werden soll, kann politisch korrekt nur aus Definitionen bestehen, und deshalb bemüht man sich allerorten, Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus, antisemitischen Islam etc. genauestens voneinander abzugrenzen wie umgekehrt deren Schnittmenge zu ermitteln – um nur in keinem Fall vom Ganzen zu sprechen, das eben hätte Bestimmung statt Definition zur Voraussetzung. Deutschland aber könne seinen moralischen Kompass wiederfinden, es komme lediglich darauf an, ihn mittels der Definitionsmerkmale dessen, was man nicht darf, genau zu justieren, und die Darstellung der vergangenen Verbrechen deutscher Politik dient allein noch dazu, dem deutschen Souverän von heute ordentlich die Leviten zu lesen. So wird auch noch die Israel-Solidarität ruiniert: Wer glaubt, den Menschen sei die Wahrheit nicht zumutbar, sie eben darum mit Definitionen abspeist und mit Propaganda aufmuntert, wird bald selber nicht mehr wissen, was wahr ist.

Hier bewährt sich der Mechanismus der postnazistischen Öffentlichkeit, die voneinander isoliert, was im Innersten einander bedingt. Es kann gar nicht genug diskutiert und dokumentiert werden, aber alles zu seiner Sendezeit und in seinem Format: entweder Definition und Postulat der moralischen Maßstäbe von heute – oder Entrüstung und Faszination angesichts der Verbrechen von damals; entweder Frank Plasberg („Özil hui, Ali pfui – welche Zuwanderer brauchen wir?“) und Kay Sokolowsky („Feindbild Moslem“) oder Guido Knopp („Die SS – Eine Warnung der Geschichte“) und Jens Hoffmann („Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten“). In Deutschlands Interesse aber liegt mehr denn je, auseinanderzuhalten, was immer schon zusammengewachsen war – damit nur eines nicht kenntlich wird: dass die Bejahung der Resultate nationalsozialistischer Vernichtung gleichsam das Transzendentalsubjekt ist, das jeden Gedanken muss begleiten können.

hot nix geleisteet

Die Segmentierung des Bewusstseins, die solchermaßen kultiviert wird, drängt am Ende nur umso besinnungsloser dazu, alles mit allem zu identifizieren, und so steht nichts mehr im Weg, Islamophobie als den Antisemitismus von heute auszugeben bzw. den Antisemitismus als die Islamophobie von einst. Wer diese Logik des medialen Irrsinns verinnerlicht hat, dem erscheint es a fortiori logisch, dass diejenigen, die sich zum Antisemitismus von einst bekennen, heute als Feinde des Islam auftreten. Dabei sind sie es bloß, insofern sie den Stolz auf das einmal Geleistete zulassen, sich offen zu den Resultaten nationalsozialistischer Vernichtung bekennen und also jenem Transzendentalsubjekt spontan und leidenschaftlich Ausdruck geben, das überall sonst verdrängt wird. Dadurch bedeutet der Jihad für sie notwendig eine einzige große narzisstische Kränkung, die keine andere der von ihnen verachteten und bedrohten Gruppen bereit hält. Sie verteidigen also das „schaffende Kapital“ nicht nur vor dem Ansturm derer, die zu Menschen mindestens zweiter Klasse, zu vertierten Wesen erklärt werden, weil man sie als gleichgestellte Konkurrenten nur allzusehr fürchtet. Sie verteidigen es zugleich vor der wachsenden Macht einer Religion, die als Gemeinschaft gleichermaßen beargwöhnt wie beneidet wird, weil sie ganz ohne eigenes „schaffendes Kapital“ weltweit triumphieren kann – und der man dennoch beim besten Willen nicht zu unterstellen vermag, dass sie ein Instrument des „raffenden Kapitals“, der Weltverschwörung des Judentums, sei. Ja, diese Religion erscheint als Substrat dessen, was man sonst als Rassist in Gestalt von Rassen verkörpert sehen will: Konkurrenz von Menschen mit Arbeitskraft vermeintlich geringerer Produktivität. Aber mit ihrem Fanatismus würden die Muslime nicht nur darüber hinwegtäuschen, dass sie zur produktiven Arbeit nicht fähig seien, sondern könnten weltweit die Unproduktiven aufwiegeln. Das war schon die Furcht, die auch originäre Nationalsozialisten erfassen konnte: Wenn Alfred Rosenberg einerseits bereits das „jüdische Zentrum in Jerusalem“ als Vollendung der „Gegenrasse“ perhorreszierte, hat er andererseits im „fanatischen Geiste Mohammeds“, der die „Rassen“ gegen Deutschland und Europa aufhetze, den großen Rivalen gewittert, der immer nur insofern zu tolerieren sei, als er im Kampf gegen die Gegenrasse helfen könnte. (6) Wie weit das Bündnis im Namen der Vernichtung jener Gegenrasse also gehen sollte, war im Dritten Reich vielfach umstritten; unumstritten hingegen, dass die Vernichtung nur durch die Kraft der industriellen Produktion vorangebracht werden könne. Die Arbeit nahm charakteristischerweise eine „ideelle Bedeutung“ für den „völkischen Staat“ an, (7) das heißt: ihre permanente Beschwörung ist im Nationalsozialismus und im Postnazismus unabdingbar und wird als Dienst an der Gemeinschaft, als alltägliche Form des Opfers verstanden, die auf die Vernichtung einstimmen oder sie hinterher legitimieren soll. Im Islam hingegen war und ist sie kein Thema – soweit reicht der Instinkt des postnazistischen Subjekts gerade noch, dass es etwas davon wittert: Die Gemeinschaft der Umma, die den politischen Neid weckt, beruht auf Opfer ohne Arbeit, und die Formen, in denen hier die Vernichtung vorbereitet wird, setzen die Industrialisierung der eigenen Produktion nicht voraus, greifen vielmehr in der Praxis des Jihad zurück auf bereits vorhandenes technologisches Potential und konzentrieren sich in der Ideologie auf die bloße Voraussetzung aller Produktion: die individuelle Reproduktion in der Familie und damit die Rolle der Frau als Zwangsarbeiterin dieser Reproduktion.

So richtig es ist, dass in Zeiten des durchgesetzten Weltmarkts überall das Subjekt, das als Überflüssiges systematisch produziert wird, „sich einer als natürlich imaginierten, unaufkündbaren Zugehörigkeit zum Kollektiv, zur Gemeinschaft der Unabkömmlichen versichern“ möchte und darum „nach unhintergehbarer Identität“ sucht, „deren Anerkennung den Individuen ihren ‚Platz an der Sonne’ d.h. an der Werkbank garantieren soll“ (8) – die unhintergehbare Identität, die durch den Islam angeboten wird, ist nicht irgendeine. Sie beinhaltet eine Reaktion auf die Durchsetzung des Weltmarkts, die auch von allen vorangegangenen sich unterscheidet: Denn sie entspricht wie keine andere der Permanenz der Krise, wie sie nach den beiden eruptiven „Weltkriegskrisen“ (Heinz Langerhans) sich eingestellt hat. Wenn Max Horkheimer einmal angesichts des Nationalsozialismus schrieb, der Staatskapitalismus beseitige den Markt und hypostasiere die Krise „für die Dauer des ewigen Deutschlands“ (9), so kann heute über den Rentierskapitalismus gesagt werden, er finanziert weltweit den permanenten Rückzug vom Arbeitsmarkt, und es ist dieser konsequent auf Märtyrertum ausgerichtete Rückzug, der die Krise für die Dauer des ewigen dar al-Islam hypostasiert (wobei im dar al-harb Europas diese Funktion, die vom Netz islamischer Wohlfahrts-Rackets ausgeübt wird, durch die Leistungen des Sozialstaats, soweit noch vorhanden, ergänzt zu werden vermag).

Das Subjekt des Jihad versichert sich nicht einer Gemeinschaft der Unabkömmlichen, sondern der im emphatischen Sinn Abkömmlichen: derer, die mit Haut und Haaren akzeptiert haben, dass die Werkbank nicht der Platz an der Sonne ist, weil dieser Platz allein das Paradies sein kann, wo man sich namentlich am schnellsten als Märtyrer einfindet. Jenes im westlichen Feuilleton meist amüsiert belächelte Paradies ist aber ein bloßes Deckbild für Vernichtung und Selbstvernichtung – wie das Heideggersche Sein im ewigen Deutschland. Nur dass in der Volksgemeinschaft die Bereitschaft zum Selbstopfer nicht vom Himmel fiel, sondern mit Fleiß, Disziplin und Produktivität erarbeitet wurde. Es genügte nicht, einen Sprengstoffgürtel sich umzuschnallen oder Nukleartechnologie zu importieren, es mussten vielmehr die industriellen Kapazitäten zur Aufrüstung für den Vernichtungskrieg selbst hervorgebracht werden; und statt den Koran zu zitieren, ließ ein Philosophieprofessor in Marburg es sich sauer werden und schrieb hunderte Seiten über „Sein und Zeit“, damit 50 Jahre später wiederum einer in Starnberg sich daran machte, die politischen Verbrechen in einer nicht enden wollenden „Theorie des kommunikativen Handelns“ zum Verschwinden zu bringen.

i leist wos

Solche Differenz, die mittels Kritik der politischen Ökonomie wie psychoanalytischer Reflexion näher zu bestimmen wäre, ermöglicht es dem postnazistischen Bewusstsein, das nur wittert und wähnt, als vermeintlicher Kritiker des Islam sich zu vermummen und den Schein zu erzeugen, es argumentiere im Sinn der Aufklärung und der Zivilisation gegen Barbarei und Rückschrittlichkeit. Darum beschimpft diese zur Demokratie gezwungene Volksgemeinschaft die Gemeinschaft der Umma, mit der sie manches teilt aber den Großraum nicht teilen möchte, und beruft sich etwa auf die „Würde der Frau“. Sie kalkuliert den Wert der Ware Arbeitskraft überall ein – für die vergangene Vernichtung wie für die gegenwärtige Produktion; sie fetischisiert die Arbeit an sich in diesem doppelten Sinn, und deshalb nimmt sie am Islam all das als Feindliches wahr, was ihrem Arbeitsethos widerspricht.

Ist davon unterschieden etwas wie ein westliches Bewusstsein bestimmbar, dann kann es nur darin bestehen, dass im Arbeitsethos eben jener Abgrund fehlt, der die Volksgemeinschaft ausmacht. In diesem Bewusstsein gibt es nur die Bejahung der Resultate der Produktion und, ist es politisch konsequent, den Stolz darauf, dass es gelang, den Krieg gegen den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg zu gewinnen. (Affinität zu einem solchen Begriff westlicher Politik mag etwa auch Geert Wilders bewogen haben, die Einladung zu einem gesamteuropäischen Treffen der rechtspopulistischen Parteien, das von der FPÖ in Wien ausgerichtet wurde, nicht anzunehmen, (10) und die „Jerusalemer Erklärung“ von FPÖ, Vlaams Belang, Schwedendemokraten und deutscher „Bürgerrechtspartei“ nicht zu unter­schreiben (11).) Die Ablehnung des Islam kann auch hier rassistische Züge tragen, aber da das Arbeitsethos konsequent dem Primat der Produktion folgt, fehlt der Hass, der von der Kränkung herrührt, wie es sie nur angesichts eines gemeinsamen Ziels gibt. Während die Daham-statt-Islam-Propagandisten in ihrem Innersten, in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit, akzeptiert haben, dass man die Arbeit, wenn es nottut, dem Primat der Vernichtung unterordnen muss, und sich eben deshalb dem Jihad so schändlich unterlegen fühlen, der gerade dieses Primat für alle sichtbar verkörpert.

Wie es aber in Deutschland um die Bestrebungen steht, sich am Westen auszurichten und die Aufklärung gegen den Islam zu wenden, vermag das Schicksal des Thilo Sarrazin zu zeigen. Seine allseits „umstrittenen“ Aussagen, wonach die Muslime der Produktivität des Landes Abbruch tun und Deutschland überhaupt „abschaffen“ würden, wollten eigentlich suggerieren, es gebe jenen Doppelsinn des Arbeitsethos im postnazistischen Deutschland nicht mehr, und deshalb könnte der Rassismus wieder seine alte Unschuld gewinnen. Thilo Sarrazin erscheint als Wiedergänger Friedrich Nietzsches. Mit dessen Unschuldsmiene prätendiert er, eine Elite der Produktiven heranzuzüchten und spricht in deren Namen von Aufklärung und Verwestlichung. Sieht man jedoch genauer hin, was unter Produktivität hier verstanden wird, dann taucht auch jener Abgrund wieder auf. Justus Wertmüller konnte präzise nachweisen, dass die Argumente, wie Sarrazin und seine Fürsprecher sie handhaben, lediglich dazu dienen, unter dem Deckmantel der Produktivität den Mittelstand, insbesondere bei den Beamten, wenn die Verwertung zu lahmen beginnt, vor der Durchlässigkeit für Aufsteiger zu schützen (vgl. Wertmüller, Bahamas 59, 2010). Demgemäß favorisiert man eine Art verfassungspatriotischen Rassismus, der durch die heftigen Debatten, die er auslöst, als tragfähiges Scharnier zwischen linken und rechten Deutschen, zwischen den Antirassisten der multikulturellen Völkergemeinschaft und den Rassisten der deutschen Volksgemeinschaft funktioniert, und allen erspart, über beider Gemeinsamkeit zu sprechen. So harmlos Sarrazins Aussage über das „jüdische Gen“, so signifikant, dass er die Vernichtung des Judentums nur erwähnt, um einen „gewaltigen geistigen Aderlass“ zu beklagen, der eben dem Aufbau einer leistungsorientierten Elite geschadet habe. Hier bietet auch Alice Schwarzer, die mittlerweile als „der bessere Sarrazin“ beworben wird, keinen Ausweg, wenigstens für den, der noch ihren Gedankenaustausch mit Leni Riefenstahl in Erinnerung hat. Dass für so viele das Gedenken an den nationalsozialistischen Massenmord Vorwand ist, nichts gegen die Vorbereitung eines jihadistischen zu unternehmen, kann wiederum nicht Vorwand sein, über jene Abkunft hinwegzugehen, wenn die bedrohliche Zukunft ins Auge gefasst wird. Es gibt aber, definiert man sich als liberal, den eigenartigen Zwang, von der Vernichtung zu schweigen, sobald die Arbeit hochgehalten wird. Und die allgegenwärtige Rede von den „Werten“, die zu verteidigen seien, ist unmittelbar Ausdruck davon, dass über die Voraussetzungen der Vernichtung Stillschweigen zu bewahren ist, damit die Arbeit in Deutschland nicht ihren guten Ruf verliert. (12) Denn auf sie setzt man im Kampf gegen den Islam. Wenn in Amerika von pursuit of happiness gesprochen wird, heißt es in Deutschland immer nur: Arbeit macht frei. Anders als die Arbeit an sich, egal unter welchen Bedingungen, zu preisen, lässt sich hier, selbst beim besten liberalen Willen, auch Vermittlung und Vertragsverhältnis nicht ausdrücken.

nur noch lallend

Der Hass der Volksgemeinschaft auf die Muslime ist also einerseits rassistisch wie der Hass auf die Schwarzen, Asiaten usw. – als solcher kann er für jeden einzelnen, der einem enthemmten Mitglied dieser Gemeinschaft begegnet, äußerst gefährlich werden; andererseits unmittelbar politisch motiviert als Neid auf eine Gemeinschaft, die ihr kränkend die eigene politische Überholtheit vor Augen führt – aber als solcher ist er in sich begrenzt: er assoziiert die beneidete politische Einheit in keinem Fall mit der Macht des international agierenden Kapitals, des Weltmarkts. Noch in den schlimmsten Wahnphantasien verkörpern die Muslime nicht die abstrakte Seite des Kapitals, sondern werden als Feinde der Juden durchaus wahrgenommen.

Mit diesem Gemeinschaftsneid kehrt das postnazistische Bewusstsein zur Großraumtheorie zurück, die nun nicht mehr wie in der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis umschlägt in Aspiration auf Weltherrschaft – und darin mag sich etwas von der Verflechtung der Nationen zeigen, vom Grad, in dem der Weltmarkt die Nationalökonomien durchdrungen hat, solange jedenfalls keine Krise wie die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese Zusammenhänge wieder zerreißt. Eine gewisse Verbürgerlichung und Integration in westliche Vergesellschaftungsformen wird hingenommen, die direkten Nachfahren des Volks ohne Raum, das den Westen wie den Osten erobern wollte, begnügen sich mit einer eigentümlich ungreifbaren Doppelexistenz, die darin besteht, immer zugleich innerhalb und außerhalb des Westens zu sein: Gegen die Islamisierung Europas bekennen sie sich einmal zum Westen, ein andermal zum „Abendland“. Die ausschließliche Berufung auf den Westen würde ebenso Amerika zum Brennpunkt des Politischen machen, als auch allzu deutlich in Erinnerung rufen, dass es eine Westfront fürs nationalsozialistische Reich gab; die Bezeichnung Abendland hingegen diente seit der deutschen Romantik dazu, die Bedeutung der Amerikanischen Revolution zu leugnen, und sie erreichte in der letzten Phase des Nationalsozialismus, die auf die Einigung Europas im Zeichen der Judenvernichtung ausgerichtet war, ihre größte Beliebtheit. Ein solches „Abendland in Christenhand“, oder besser: ein solcher von gekränktem Stolz getriebener Hass, der auf einen eben solchen der Muslime reagiert, ist aber geopolitisch der denkbar beste Partner der Jihadisten, die ideologisch ganz unabhängig von der ökonomischen Verflechtung und den Weltmarkt-Beziehungen operieren können, solange sie etwa in der Erdöl-Rente eine verlässliche Geldquelle besitzen. So sehr die wütende Reaktion der Gekränkten ihnen nützlich ist, sich selber als die von Christen und Rassisten Verfolgten und Gedemütigten, als die Juden von heute, hinzustellen, so sehr kommt der Jihad den Bedürfnissen einer postnazistischen Volksgemeinschaft entgegen, die nur noch von ihrer Vergangenheit leben will und die anderen Großräume politisch aufgeben musste.

Angesichts der aktuellen Bedrohung Israels ergibt sich aber die Gefährlichkeit einer politischen Gruppe, ob sie nun als rechts oder links gelten mag, am verlässlichsten daraus, wie weit in ihr der Hass auf den Staat der Juden gediehen ist, und insofern sind die zu Populisten gemauserten Neonazis politisch überhaupt nur noch darin von Belang, dass sie den Linken und Linksliberalen das denkbar beste Alibi liefern, sich gegen Israel und für den Islam zu engagieren – sei’s durch ihren alten Rassismus oder durch ihre jüngsten Avancen gegenüber Israel. Bernard Schmid spricht von „Pikanterie“, wenn der für seine NS-Apologien bekannte Andreas Mölzer mit Strache auf Israel-Reise geht, (13) die Antiimperialistische Koordination sagt gleich: „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“ (14) – und ein weiteres Mal wird an den Davidstern das Hakenkreuz angebracht.

So mündet das primäre postnazistische Bewusstsein in ein sekundäres, in dem die ursprünglichen Motive gewandelt wiederkehren, und die Frage, was deutsch ist, lautet nunmehr: Warum benötigen die Linken und Linksliberalen überhaupt einen Vorwand, warum brauchen sie so dringend die Rechten und Rechtspopulisten als Stichwortgeber? Warum schließen sie sich nicht unmittelbar den Jihadisten an und erklären die Sharia zum realen Sozialismus? Sie können es nicht, insofern sie derselben Gesellschaft entstammen wie ihre Stichwortgeber, und ihr Arbeitsbegriff schwört sie auf diese Herkunft ein; weil sie mit demselben Transzendentalsubjekt, der Bejahung der Resultate nationalsozialistischer Vernichtung, denken müssen, aber das zugehörige Gefühl, den Stolz auf das große Geleistete, der immer auch den auf das größte Verbrechen einschließt, nicht zulassen dürfen – was bedeutet, ihn nur als Sündenstolz durchgehen zu lassen. Wer aber in diesem Bedürfnis, sich von den Rechten abzugrenzen, ein letztes ehrenhaftes Motiv auf der Seite der Linken erblickt, wird auch dem Deutschen, wie Adorno ihn bestimmt hat als einen Menschen, „der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben“ (15), die Anerkennung nicht versagen dürfen.

Weil wir Palästinenser sind

An der Kollaboration mit dem Islam lässt sich ablesen, auf welche Weise man die von den Siegermächten geschaffene Nachkriegsordnung innerviert hat: Jihad und Sharia, Verschleierung der Frau und Terror der Tugendwächter werden nicht als Kränkung narzisstischer Art, sondern als Bestätigung von Straf- und Leidensbedürfnis erfahren, als verdiente Strafe dafür, dass man den durch Ausbeutung und Vernichtung geschaffenen Reichtum mitgenießt – die aber, solange man nicht unter der Herrschaft der Sharia lebt, den Vorteil besitzt, dass man selber davon nicht unmittelbar betroffen ist. Der Islam ermöglicht den linken Abkömmlingen christlicher Sühnebereitschaft eine unerhörte Entfesselung ihrer Strafphantasien am anderen Objekt.

Es ist merkwürdig, dass Jean-Paul Sartre noch in seinem schlechtesten Text, also im Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde, mehr Licht auf diese Haltung werfen kann, als die Analyse sämtlicher linken Manifeste, die doch immer nur Humanismus heucheln, wo keiner mehr ist sondern nur noch Hass. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Philosoph einmal wie kaum ein anderer begriffen hatte, was Widerstand gegen den Nationalsozialismus bedeutet: Wissend, dass der Antisemitismus kein „jüdisches Problem“ ist, sondern „unser Problem“, hat Sartre die Totalität des Vernichtungswahns 1945 beim Wort genommen und statt irgendeine Büßer-Haltung einzunehmen seine Überlegungen über die Judenfrage mit der Forderung beschlossen, eine „militante Liga gegen den Antisemitismus zu gründen“. So lautete seine konkrete Fassung des kategorischen Imperativs nach Auschwitz: Als die Lager kaum erst befreit waren, macht er sich anscheinend keinerlei Illusionen mehr über das Fortwesen des Nationalsozialismus und des Drangs, die Vernichtung wiederaufzunehmen.

Solcherart Einsichten zu revidieren, war nicht leicht. Zunächst, so Sartre in seinem Fanon-Vorwort, „müssen wir ein unerwartetes Schauspiel über uns ergehen lassen: das Strip-tease unseres Humanismus. Da steht er also ganz nackt da, kein schöner Anblick. Er war nur eine verlogene Ideologie, die ausgeklügelte Rechtfertigung der Plünderung.“ (16) Es bleibt bei einem Schauspiel, weil dieser Begriff von Plünderung nur etwas wie eine leere Gewiss­heit vermittelt. Kritik hingegen würde im Unterschied zu Sartres Humanismus-Striptease heißen, die Entstehung von Individualität ebenso auf die fortdauernden, bloß erneuerten und modifizierten Verhältnisse der Gewalt, Erniedrigung und Ausplünderung zurückzuführen als der effektvollen Deutung zu widerstehen, dass Individualität damit auch schon in diesen Entstehungsbedingungen aufgehe. Kritik besteht darauf, dass Geltung und Genese auseinander fallen: „Daß das Individuum, wie der geschichtliche Verlauf und die psychologische Genese es lehren, ein Entsprungenes ist; daß das Individuum nicht jene Invarianz für sich behaupten kann, deren Schein es in Epochen einer individualistischen Gesellschaft annahm, mag das historische Verdikt über das Individuum begründen. Aber dies Urteil ist kein absolutes. Das Entsprungene kann, nach Nietzsches Einsicht, gegenüber seinem Ursprung das Höhere sein. Kritik am Individuum meint nicht dessen Abschaffung.“ (17)

Das Versprechen, das im Entsprungenen liegt, zu leugnen, ist es jedoch erforderlich, den Humanismus auf die „rassistische“ Herkunft festzulegen, und das ist der Inhalt von Sartres Hinwendung zu Fanons Hasspredigt: Der Humanismus sei rassistisch, weil der Europäer (die USA figurieren als „übereuropäisches Monstrum“) nur dadurch sich zum Menschen habe machen können, dass er „Sklaven und Monstren hervorbrachte“. (18) Kampf gegen diesen Rassismus heißt: alles zurückzunehmen, wodurch Europäer als Menschen erscheinen, dieses „verfälschte Leben“ zu beenden und eine „ursprüngliche Einheit“ zu erringen, und eben dazu muss gemordet werden und geopfert – es klingt wie der Schrei nach dem Islam: „Der neue Mensch beginnt sein Menschenleben mit dem Ende, er hält sich für einen potentiellen Toten. Er wird getötet werden. Das heißt nicht nur, daß er das Risiko auf sich nimmt, sondern daß er sich dessen gewiß ist.“ (19) Einen Europäer erschlagen heiße „zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“ (20) Was übrigbleibt, ist jedoch kein Mensch, sondern ein Volk, ein totes Volk und ein freies Volk. „Schritt für Schritt den Weg gehen, der zum Eingeborenenstatus führt“ und auf diesem Weg den Bürgerkrieg in den Metropolen zu eröffnen, erscheint da als einzige Alternative, den Sartre für die Europäer sieht.

Der Bußfertige ist also der Zivilisierte, der sich selbst verleugnet, weil er dunkel aber sicher weiß, dass seine Zivilisiertheit, sein Status als Mensch, mit Ausbeutung und Erniedrigung zu tun haben muss; und Büßen heißt, der intellektuellen Anstrengung sich entziehen, womit die leere Gewissheit durch einen Begriff von Ausbeutung und Erniedrigung zu ersetzen wäre, der die Intention, sie zu beenden, überhaupt erst glaubhaft machen könnte. Kein Zivilisierter kann vollständig verdrängen, dass er von Ausbeutung und Erniedrigung lebt, so wie kein Intellektueller davon unberührt bleiben kann, dass die Möglichkeit seiner Existenz auf einer Arbeitsteilung beruht, durch die andere erniedrigt werden. Die Frage ist, wie auf diese Schuldgefühle reagiert wird, und die Büßerhaltung der linken Antirassisten ist die von keinem Gedanken getrübte Reaktion, die am nächsten liegt und am infamsten ist.

Während die narzisstisch Gekränkten einfach nur gekränkt sind und darum gegen den Islam als ihren erfolgreicheren Konkurrenten hetzen, erleben sich jene, deren Strafphantasien befriedigt werden wollen, immer zugleich auch als die Strafenden; identifizieren sich unmittelbar mit der strafenden Instanz. Weil jedoch seit dem Untergang der RAF die in Sartres Fanon-Hymne visierten Möglichkeiten versperrt sind und der Bußfertige jetzt auch am Ende des langen Marsches durch die Institutionen angelangt ist, phantasiert er sich vornehmlich in die Rolle des Weltsouveräns, der über den Ländern regierend, die reichen Ausbeuter-Nationen in die Schranken weist und, wenn es sein muss, die islamische Erweckungsbewegung auf sie loslässt. Notwendig rückt damit Israel in den Mittelpunkt der Feindbildprojektion: In der Stunde „der großen bußfertigen Auflösung des Nationalstaats“ verstießen ja nun gerade die Juden „mit flagranter Unverfrorenheit gegen die Religion der Humanität, zu der sich Europa bekehrt“ habe, zitiert Alain Finkielkraut mit feiner Ironie das Bewusstsein der Antirassisten: „Von ihrer souveränen Macht berauscht, durchdrungen von ihrem nationalstaatlichen Sein“ glichen sie den Antisemiten von einst und würden seelenruhig deren Nachfolge antreten. (21) So trifft sie der ganze Hass der „bußfertigen Richter“, die unfähig seien, den Rassismus und den Sozialdarwinismus anders zu verdammen, „als daß sie den heiligen Paulus aktualisieren und wiederverwerten, das heißt, indem sie den Nachkommen Abrahams erneut den Vorwurf machen, sich krampfhaft an ihren dynastischen Vorrechten festzuklammern und an den Blutsbanden festzuhalten, während man ihnen die Vereinigung der Herzen vorschlägt“. (22)

Darum ist heute, was die internationale Politik betrifft, der Büßer politisch viel gefährlicher als der Gekränkte, das sekundäre postnazistische Bewusstsein weit wirkungsvoller als das primäre. Ange­trieben gleichermaßen von dem Wunsch, die Gewaltverhältnisse zu verdrängen, wie von dem, für die Ausbeutung zu büßen, betreibt jenes Bewusstsein ebenso eifrig den Abbau von Souveränität im Namen des falsch verstandenen und darum hypostasierten Völkerrechts, wie es alle Strafen vorbehaltlos hinnimmt, die der Islam sich ausdenkt, vor allem wenn sie am Leib der anderen exekutiert werden. Als verhältnismäßig im Sinne der Völkergemeinschaft gilt ihm, dass der Staat Israel vom Erdboden verschwindet, soweit es dessen Staatsräson ist und sein muss, diese Verdrängung, die nicht nur alles beim Alten lässt, sondern dabei dem Schlimmsten Vorschub leistet, nicht mitzumachen und anstelle des blindwütigen Büßens, das jeden Terror legitimiert, Verteidigungsbereitschaft zu demonstrieren. „Wer ist es, der nicht haben will, dass in der Welt Friede sei“ – diese Suggestivfrage stammt zwar von der Alpen-Donau-Info, es sind aber die Antifaschisten, die sie jetzt am effektivsten stellen.

Ich danke Marco Juen und Michaela Sivich für einige wichtige Hinweise.

Gerhard Scheit (Bahamas 61 / 2011)

Anmerkungen:

  1. Karl Kraus: Die Letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Schriften: Hg. v. Christian Wagenknecht, Bd. 10, Frankfurt am Main 1986, 130 f.
  2. „FPÖ-Gemeinderat: ,Einzige Partei, die von einem Schwulen geleitet wurde‘. Parteien werben vor der Wien-Wahl aktiv um homosexuelle Wähler – auch die FPÖ – Empörung von BZÖ" (Der Standard, 16.9.
  3. www.yabanci.at
  4. „Ganz im Gegensatz zu Häupl, der weiter auf den Anti-Israel-Demonstranten und SPÖ-Gemeinderat Al-Rawi setzt und offenbar Kundgebungen, wo die Israelis als Kindermörder bezeichnet und der Judenstern mit dem Hakenkreuz verglichen wird, gut heißt, wird Strache als Bürgermeister einer solchen radikal-islamischen Hetze einen Riegel vorschieben.“ (FPÖ-Aussendung, 24.8.
  5. Initiative Sozialistisches Forum: Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten, Freiburg 2004, 7
  6. „Vor diesem einst vielleicht geeinigten Haß der farbigen Rassen und Bastarde, geführt vom fanatischen Geiste Mohammeds, haben die weißen Rassen mehr denn je alle Ursache auf der Hut zu sein.“ Alfred Rosenberg: Der Mythos des 20. Jahrhunderts, München 1942, S. 665.
  7. Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1942, 482 ff.
  8. Alex Gruber: Vernichtung als Bazar der Kulturen. Zur Aktualität des Antirassismus. In: Prodomo 14/2010
  9. Max Horkheimer: Autoritärer Staat. Gesammelte Schriften: Hg. v. Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 5. Frankfurt / Main 1987, 294
  10. Um mögliche Partner nicht zu verschrecken wurde zwar diesmal der französische Front National, mit dem die FPÖ Kontakte pflegt, nicht eingeladen. „Dafür kommen: der Vlaams Belang, die Schwedendemokraten, die dänische Volkspartei, die italienische Lega Nord, die slowakischen SNS. Von dieser kommt Parteichef Jan Slota, wegen Anti-Ungarn- und Anti-Roma-Agitation umstritten, höchstpersönlich. […] Geert Wilders, der niederländische Rechtspopulist, der mit seiner Partij voor de Vrijheid die neue Regierung in Den Haag stützt, ist übrigens nicht mit von den transeuropäischen Rechten-Partie. Der Einzelgänger verweigert sich.“ (Die Presse, 22.10.
  11. www.diefreiheit.org/politische-programme/jerusalemer-erklarung/. Wie Thomas von der Osten-Sacken festhält, wird darin Israel allein deshalb unterstützt, weil es gegen die „islamische Bedrohung“ kämpfe. „Kein Wort, weshalb es dieses Land gibt und kein Wort über die antisemitische Motivation hinter dieser Bedrohung.“ (www.wadinet.de/blog/?p=
  12. So ist auch in der „Jerusalemer Erklärung“ viel von den „Werten“ die Rede, sogar vom „Wertekanon der westlichen Zivilisation“ und den „jüdisch-christlichen kulturellen Werten“ – aber die Menschenrechte, um die es hier geht, sind an keiner einzigen Stelle aufs Individuum, sondern nur auf Volk und Völker bezogen, also ganz im Sinne von Hitlers „Menschenrecht bricht Staatsrecht“: Die Erklärung schließt denn auch mit den Worten: „Das Recht auf Heimat ist eine Menschenrecht, welches für alle Völker zu wahren und umzusetzen ist.“
  13. www.trend.infopartisan.net/trd1210/t371210.html
  14. www.antiimperialista.org/de/node/6699
  15. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Gesammelte Schriften: Hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, 124
  16. Jean-Paul Sartre: Vorwort [zu Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde], Deutsch von Traugott König, Frankfurt am Main 1981, 22
  17. Theodor W. Adorno: Postscriptum [Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie], Gesammelte Schriften, Bd. 8, 91
  18. Sartre, Vorwort, S. 23.
  19. Ebd. 21
  20. Ebd. 19 f.
  21. Alain Finkielkraut: Im Namen des Anderen. Reflexionen über den kommenden Antisemitismus, In: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte: Hg. v. Doron Rabinovici u.a., Frankfurt am Main 2004, 126 f.
  22. Ebd. 132. Allerdings hat Finkielkraut mittlerweile zusammen mit Henry-Bernard Lévy einen „European jewish call for reason“ formuliert (www.jcall.eu/?lang=de), der „über den traditionellen Meinungsverschiedenheiten stehen“ und „sich die Zukunft Israels und seine Koexistenz mit einem souveränen und lebensfähigen palästinensischen Staat zum Ziel“ setzen möchte. Der Auf- und Ausbau der Siedlungen im Westjordanland und in Ost-Jerusalems wird als Ursache für die „Delegitimierung Israels als Staat“ angesehen und Israel als ein Individuum betrachtet, das sich „schämen“ müsse, nur weil es Maßnahmen trifft, sich selbst zu erhalten. Es scheint also soweit gekommen, dass Finkielkraut an sich selber die „schreckliche Hypothese“ bewahrheitet und den in seinem Essay über den neuen Antisemitismus ironisch verwendeten pluralis majestatis wörtlich nimmt: Er stellt sich auf die Seite der „bußfertigen Richter“.

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